Neue Westfälische - 26.03.2008 - Blick zurück im Zorn

Speerwerfer Michael Wessing ärgert sich noch heute über den Boykott von 1980

VON LUDGER OSTERKAMP

Gütersloh. Olympia-Boykott? Michael Wessing weiß, was er davon zu halten hat. „Das ist großer Mist, und das bringt überhaupt nichts.“ Der 55-Jährige, ein Speerwerfer, war 1980 als Top-Favorit um die Olympischen Spiele in Moskau gebracht worden. „Das war eine der bittersten Erfahrungen meines Lebens.“

Wessing ist heute Trainer bei der LG Emsaue 04, jener Leichtathletikgemeinschaft, die aus Wiedenbrücker TV und Victoria Clarholz hervorgegangen ist. Er trainiert die Nachwuchs-Werfer, hält sich derzeit mit einem Team von rund 25 Sportlern im Trainingslager in Wattenscheid auf. Die Diskussion um einen Boykott der Olympischen Spiele verfolgt der selbstständige Unternehmensberater mit großer Spannung. „Aber selbst heute, 28 Jahre danach, fällt es mir schwer, dabei ruhig zu bleiben.“

Damals, 1980, war Michael Wessing der beste Speerwerfer der Welt. Er führte die Weltbestenliste mit 94,22 Meter an, zwei Jahre vorher war er Europameister geworden. „Olympia war mein Lebenstraum“, sagt Wessing. Zusammen mit anderen Speerwerfern wie Klaus Tafelmeier und Helmut Schreiber war er dabei, sich in San Diego (Kalifornien) in Frühform zu bringen, als die Debatte um den Moskau-Boykott anhob. Die Sowjetunion war in Afghanistan einmarschiert, „aber dass das Folgen für den Sport haben sollte, hätte ich nie geahnt.“

Wessing fühlte sich ohnmächtig, wie ein Spielball. „Die Politiker und die Sportfunktionäre machten es sich leicht, und wir Sportler waren die Dummen“, zürnt er. Schon das Trainingslager in San Diego geriet zur Farce. „Die Luft war komplett raus.“

Wessing reiste zurück nach Deutschland, es fiel ihm schwer, sich zu motivieren, sich zu schinden. Geärgert hat ihn das Verhalten der Spitzenfunktionäre wie Willi Weyer und Willi Daume. „Anfangs haben sie noch gegen einen Boykott protestiert, später fielen sie um und meinten, Weltpolitik betreiben zu müssen.“ Verzweifelt versuchten die Athleten, sich Gehör zu verschaffen. „Wir sind mit über hundert Athleten zu einer Kundgebung in die Dortmunder Westfalenhalle gefahren, unser Sprecher Thomas Bach verlas eine Resolution pro Olympia, doch geholfen hat alles nichts.“ Nachdem einen Monat zuvor der Bundestag sich für einen Boykott ausgesprochen hatten, beschloss das Nationale Olympische Komitee am 15. Mai 1980, auf die Teilnahme in Moskau zu verzichten. Die Abstimmung wurde live im Fernsehen übertragen.

„Von da an fiel ich in ein Loch“, sagt Wessing. Noch im Mai stellte er sein Training ein. Er nahm den Speer erst Wochen später wieder zu den Deutschen Meisterschaften in die Hand. Wessing wurde Meister, der Verband belohnte ihn mit der Teilnahme an den Acht-Nationen-Games in Tokio und einem Sportfest in Peking – ausgerechnet. „Das war schön in China damals, gut organisiert, schöne Stimmung. Selbst die Luft war noch gut in Peking.“

Die Wettkämpfe in Moskau wurden ihm egal. Fragt man Wessing, wer das Speerwerfen gewonnen hat, fällt ihm der Name nicht ein. „Ich glaube, es war ein Russe.“ (Es war Dainis Kula, 91,20 Meter, d. Red.). Das Fernsehen zeigte keine bewegten Bilder, die Tagesschau beschränkte sich auf das Vorlesen der Sieger. Ein Jahr später riss sich Wessing den Adduktoren-Muskel im rechten Bein und eine Sehne am Becken – Wessing, 1976 in Montreal Olympia-Neunter, kam nie wieder an frühere Leistungen heran. „Man hat mir 1980 die Chance meines Lebens gestohlen. Und wozu? Haben die Russen etwa Afghanistan verlassen? Natürlich nicht. Das Ganze war für die Katz’.“

Ähnlich denkt Mike Bezdicek, ehemaliger Weltklasse-Handballer von Lemgo und Olympia-Fünfter von Sidney 2000. Der 39-Jährige, Jugend- und Damentrainer der TSG Harsewinkel, ab 1. Mai Trainer der Herren, sagt, „es ist fast schon ein Verbrechen, Spitzensportler um das größte Ereignis ihres Lebens zu bringen. So etwas wie eine Eröffnungsfeier bei den Olympischen Spielen vergisst man nie.“ Der Sport, sagt Bezdicek, sei nicht der Knüppel der Politik, der Geist des Sportes liege im Gegenteil im Verbindenden, nicht im Trennenden. „Wenn ein Sportler meint, er müsse ein Zeichen setzen, dann kann er das doch nur, wenn er da ist und nicht, wenn er wegbleibt.“

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Gütersloher Zeitung, Mittwoch 26. März 2008

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